... Alle waren wir verloren gewesen damals, und fanden auch erst wieder zurück, nachdem wir alles verloren hatten. Da ich in dieser Zeit, genauso wie alle anderen, auf der Suche nach mir selbst war, dem heiligen Gral der Endzeit, begann ich mit meinem Buch und stellte es gerade noch rechtzeitig vor der großen Dunkelheit fertig. Abgesehen von der Elektrizität, und somit der gewohnten Kommunikations- und Fortbewegungsform, verloren wir, und das ist das Entscheidende, die Illusion der materiellen Sicherheit, des Wohlstands. Aber viel wichtiger, als was wir verloren, war das, was wir fanden...


Es ist nun, da wir erlöst sind von Zweifel und Zagen, sehr schwer zu erklären, was wir damals der Liebe antaten. Wir brachen uns gegenseitig unsere Herzen, stahlen sie, zerpflückten unsere Liebe, betrogen sie, ließen sie nicht zu, verleumdeten sie. Ich trug schon immer etwas in mir, was mir damals zugleich Fluch und Segen bedeutete: ich fühlte viel, sehr viel, zu viel. Da mein Herz und meine Seele nicht auf ein derartiges Chaos vorbereitet waren, kam ich ziemlich oft ins Wanken und Straucheln. Wie ein kleiner Kiesel in der Brandung wurde ich auf und ab gestrudelt, mehr durch die Gezeiten denn durch meine eigenen Bemühungen bewegt. Hilflos trieb ich in meinen Gefühlen mal am Rande, mal in den größten Tiefen oder oben auf tobenden Wellen eines gewaltigen, übermächtigen Meeres. Doch auch wenn dieser Ozean an Gefühlen oft grausam und unerbittlich war, so barg er doch einen einzigartigen und mächtigen Schatz. Einzig dieser lies mein Herz leuchten und wies mir so den Weg. Einzig diese Reinheit lies mich das Auf und Ab des Seegangs ertragen und mich hoffen. Oft schien es mir, als hätte ich so viel von diesem Licht und könnte es nicht teilen. Manchmal fragte ich mich, ob die Anderen wohl gleich viel Licht mit sich trugen. Doch die Antwort darauf sollte mir noch bis zum Anbeginn des neuen Zeitalters verborgen bleiben…

Ich bewahrte mein Herz damals vor dem Zerspringen, in dem ich es ganz fest hielt und für eine bessere Zukunft betete. Hoffnung war rar und wurde gejagt in dieser alten, von Hollywood prophezeiten, vielleicht gar erschaffenen Welt. Denn sie entglitt uns immer mehr, die Wahrheit. Ich hatte mir im Ende des alten Zeitalters eine verzweifelte Hoffnung erhalten. Ich selbst, meine Liebe und vor allem meine Handlungen bedeuteten für mich die Saat der Hoffnung. Erlösung fanden unsere fast verzagenden Herzen, als alles zerfiel und einzig die Wahrheit, dass alle Wahrheiten wahr und alle Möglichkeiten möglich sind, übrig blieb.


... Lange war ich auf der Suche nach der Erklärung für den allwährend aufbegehrenden, stummen Destruktivismus in mir und sah keine Heilungsmöglichkeit für diesen Zustand. Umgekehrt könnte man aber auch fragen, wie man nicht zerrissen sein konnte, wenn man die Schmerzensschreie der Erde vernahm, gefangen in einem System der Beschäftigten. Entzweit von der Natur, die alles erschuf...


... So ging ich logischerweise und doch instinktiv zuerst in den Wald und bergauf. In der herrlichen und würdevollen Kathedrale unter den Dächern der Bäume fühlte ich mich sicher, immer fand ich hier Klarheit. Sie recken sich, stolze und aufrichtige Soldaten der Zeit. Sie kennen keine Flucht, keine Hast, einziger Weg, ihre Kapitulation zu erzwingen, ist die Heimkehr zu Mutter Erde. Sie stehen bewegungslos, doch ihre Regungslosigkeit verstört mich nicht. Ewige Monumente der Natur, die sie sind, die sie immer waren, die sie immer sein werden. An diesem Tag tanzen sie nicht, ihre Äste fließen nicht im Wind. Es fällt kein Blatt und keine Frucht herab. Sie warten.

Ich verweilte hier ganz oben, bis ihre Ruhe mich durchflutete und ich die Welt aus ihrer Perspektive wahrnahm. Dann ging ich den altbekannten Weg hinunter zu den Menschen und ihren Domizilen. Jedes Mal erscheinen mir diese völlig absurd, wenn ich aus der Natur zurückkehre. Irgendwer hatte wohl irgendwann festgelegt, dass der rechte Winkel eine allgegenwärtige Konstante der menschlichen Architektur sein muss und nur in Verbindung mit viel Glas, Stahl und Beton zur vollen Geltung gelangt. Beton überall endlos lebloser Beton, versiegelte Erde überall...


...Da ich mich in der alten Zeit sehr für diese Zerrissenheit interessierte, wollte ich sie ergründen, nicht zuletzt um mich selbst davon zu befreien. Im damals allmächtig anmutenden Internet konnte man leicht den Ursprung des Wortes finden: Ambivalenz setzt sich aus den beiden lateinischen Worten ambo (beide) und valere (gelten) zusammen. Beide gelten! Hört sich doch ganz schön an, nach Toleranz und Akzeptanz, nach Gleichgewicht und Einheit, ist doch prima! Dann suchte ich die Synonyme dieses Wortes, und diese hatten alle irgendwie einen negativen Beigeschmack: zwiespältig, doppelwertig, -deutig, oder -bödig, mehrdeutig, gespalten, gebrochen, unentschieden, missverständlich. Also ist der Widerspruch bereits in Semantik und Definition verankert. Na ist das nicht ambivalent, paradox, zwiespältig, widersprüchlich, irr-sinnig, ver-rückt, aus der Bahn?...


... Damals saßen wir vor den Fernsehern und sahen uns weit entfernte Länder an, die uns zwar interessierten, die wir aber nie besuchen wollten, weil zu gefährlich. Die Glotze gehörte definitiv zur Lebensgrundlage, meist im Wohnzimmermittelpunkt; Tisch, Sofa, Sessel darauf ausgerichtet. Das Zentrum der Macht war ein kleines, schwarzes oder silbernes, meistens längliches Plastikdings mit Knöpfen. Schon Kindergartenkinder wussten, wie diese magische Gerätschaft funktioniert, man stritt darum. Andächtig saßen wir dann im halbrund und halbdunkel regungslos vor der Flimmerkiste und betrachteten eine ungeheure Bilderflut aus Sport, Talk Shows, Titten oder „News“ oder – ach ja, wie meist – Werbung. So erfuhren wir Gott sei Dank, was wir brauchten: Anti-Pickel, ich-foun, Kotzifix wurden uns von glücklichen, schönen, ja perfekten Menschen vorgelebt. Kauf das, und schwupp - du wirst auch so! Auf Zielgruppen abgestimmt, mit dem erwünschten Effekt der Manipulation, die im Kauf, also dem Bezahlen des Normalverdieners an einen Multimillionen-Konzern, der sich die Sendezeit zur ‚Primetime’ leisten kann, enden sollte. Und das alles immer etwas lauter, schriller und bunter als das restliche Programm...


... In jenen Tagen waren wir alle besessen von der Freiheit. Wir jagten ihr hinterher, der vermeintlichen Freiheit, weil wir uns in unseren Herzen Gefängnisse erbauten und dort Gefangene waren. Für uns bedeutete Freiheit, sich alle Optionen offen zuhalten. Wir wollten keine klaren Entscheidungen mehr fällen, weil uns dies wie ein Massenmord an Möglichkeiten vorkam. Wir verhaspelten uns in diesem Zustand so sehr, dass wir oftmals weder auf unsere eigenen, noch auf die Gefühle Anderer Rücksicht nahmen und logen und betrogen. Dieser Irrglaube legte viele von uns für lange Zeit in Ketten und Trauer wohnte in vielen Herzen, denn diese Freiheit war nicht echt.

Was mich lange fesselte und mir die Freiheit verwehrte, waren Zweifel. Sie waren es, die mich am Boden festhielten, mich am fliegen hinderten. Denn wenn mich nur der allergeringste Anflug überkam, dann flog ich nicht, ich fiel. Ich verlor mich in einer bodenlosen Schwärze, welche immer dichter wurde, je weiter ich fiel, die mich in Anbetracht meiner Unbedeutsamkeit zu zermalmen schien...


...Seltsam, sich vorzustellen, dass alles auch in der dichtesten Dunkelheit noch seine Farbe und Form besitzt, jedoch lediglich das Licht fehlt, um diese Fülle an Information zum Vorschein zu bringen. So gönnt die Nacht uns immer eine ruhende Verschmelzung aller Dinge in der Dunkelheit, um uns jeden Morgen die Möglichkeit der Wiederentdeckung erlauchter Schönheit in all ihrer Unterschiedlichkeit zu erlauben...